Der Austausch mit Stakeholdern ist für Mercedes-Benz unverzichtbar. Ziel unseres Dialogs ist es, gemeinsam Lösungen für komplexe Herausforderungen zu finden und von Experten zu lernen.
Das Vertrauensverhältnis mit unseren Stakeholdern ist gewachsen
MIT Dr. Wolfram Heger & Nicole Susann Roschker
Sie sind das Trendbarometer, wenn es um aktuelle Entwicklungen im Bereich Nachhaltigkeit geht, ganz gleich ob regulatorisch, gesellschaftlich oder technologisch. Sie bringen externe Anforderungen an den Konzern, interne Ziele und die Geschäftsstrategie zusammen. Und sie beraten und unterstützen die Fachbereiche dabei, Aspekte der Nachhaltigkeit in ihrer Arbeit mitzudenken. Nicole Susann Roschker steuert im Sustainability Competence Office das Nachhaltigkeitsmanagement gemeinsam mit dem Konzernumweltschutz, während Dr. Wolfram Heger das Stakeholder Management bei der Mercedes-Benz Group verantwortet. Ein Gespräch über den Modus Vivendi mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs), den Wert einer Wesentlichkeitsanalyse und die Grenzen unternehmerischen Einflusses.

Wolfram Heger
Leiter Stakeholder Management bei der Mercedes-Benz Group AG

Nicole Susann Roschker
Leiterin Sustainability Management & Sustainability Competence Office bei der Mercedes-Benz Group AG
Frau Roschker, Herr Dr. Heger, was sind die wichtigsten Zukunftsthemen der Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie, die Sie – gemeinsam mit Stakeholdern – im Blick behalten müssen?
Dr. Wolfram Heger: Die Prioritäten sind vielfältig, beginnend beim Umweltschutz, über Menschenrechte, verantwortliche Lieferketten bis hin zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Wir werden diese Themen künftig noch viel stärker als bisher gesellschaftlich begleiten – also fragen, welche Ursachen, gesellschaftliche Wechselwirkungen und Lösungsansätze es gibt.
Nicole Susann Roschker: Neben Menschenrechten und Klimaschutz ist der schonende Umgang mit Ressourcen für die Mercedes-Benz Group ein Top-Thema. Wir können den Klimawandel oder den Umgang mit Ressourcen nicht losgelöst von der Frage sozialer Gerechtigkeit betrachten. Das zeigen zum Beispiel aktuelle regulatorische Entwicklungen, wie das deutsche Lieferkettengesetz. Eine nachhaltige Lieferkette bedeutet bei Weitem nicht nur, Menschenrechte einzuhalten. Es geht darum, soziale und ökologische Aspekte ganzheitlich im Blick zu haben und Risiken entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu vermeiden und zu begrenzen – von der Rohstoffquelle bis zum Recycling. Das wird sich auch bei den gesetzlichen Vorgaben, die wir 2022 von der EU erwarten, widerspiegeln. Zusätzlich fordern uns die Erwartungen von Investorenseite, auch dort rücken ESG-Faktoren zunehmend in den Fokus.
Für die Wesentlichkeitsanalyse zur Gewichtung von Nachhaltigkeitsthemen beziehen Sie interne wie externe Stakeholder ein. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen?
Nicole Susann Roschker: Eine ganz entscheidende. Unternehmen sind als Corporate Citizens Teil der Gesellschaft, ihre Aktivitäten zahlen positiv oder negativ auf deren Nachhaltigkeitsziele ein. Wir haben deshalb die Auswirkungen unserer Geschäftsaktivitäten auf die SDGs bewertet (SDG-Impact-Analyse). Durch unsere Zusammenarbeit mit Partnern aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik entstehen Impulse weit über unser Produkt hinaus, die sich auf die Gesellschaft auswirken. Unter unseren Partnern sind Unternehmen, Think Tanks, Universitäten und Kommunen, jede dieser Kooperationen leistet einen Beitrag. Gleichzeitig schauen wir, wo wir uns noch verbessern können, zum Beispiel in der Lieferkette oder in unseren Werken. Mit den gewonnenen Erkenntnissen arbeiten wir kontinuierlich weiter.
Gibt es Aspekte, die sich in 2021 besonders stark weiterentwickelt haben?
Nicole Susann Roschker: Ja, die deutlich ehrgeizigeren Elektrifizierungsziele unserer Ambition 2039 im Pkw-Bereich, wonach wir eine CO2-neutrale Pkw-Neuwagenflotte entlang der gesamten Wertschöpfungskette bis 2039 anstreben. Mit dem strategischen Schritt von „Electric first“ zu „Electric only“ haben wir diesen Anspruch im vergangenen Jahr noch einmal verschärft. Neben einer Reihe anderer Faktoren haben auch die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse zur Entscheidung des Unternehmens beigetragen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf batterieelektrische Antriebe umzustellen, überall dort, wo es die Marktbedingungen erlauben. Externe wie interne Stakeholder haben das Thema Klimaschutz als das Handlungsfeld mit der höchsten Relevanz eingestuft.
Dr. Wolfram Heger: Mir ist wichtig, bewusst zu machen, dass wir bereits seit Langem an diesen Zielen arbeiten. Ich meine, dass gerade unser kontinuierlicher und langjähriger Stakeholder Dialog mit der Zivilgesellschaft und dem Beirat für Nachhaltigkeit und Integrität dazu beigetragen haben, dass wir heute ein Human Rights Respect System haben, einen wirkungsvollen Datenschutz, unsere Ambition 2039 und den Ansatz „Electric only“.
Warum ist die Perspektive von außen so wichtig für die Analyse?
Dr. Wolfram Heger: Externe Experten, beispielsweise aus Nichtregierungsorganisationen oder unserem Beirat, geben uns sehr offene Denkanstöße und bringen ihr fachspezifisches Know-how in der Frage ein, wie wir unsere Strategie und unsere operativen Prozesse gestalten können. Mit dem Ziel, in diesen Fragen weiterzukommen, machen wir den Nachhaltigkeitsdialog. Dort vertreten die externen Experten ihre Position und äußern Kritik und Erwartungen an Mercedes-Benz sehr deutlich. Und das ist gut so. Denn sie begleiten uns kontinuierlich in der Frage: Was können wir besser machen? Damit sind unsere Interessengruppen unverzichtbare Sparring-Partner. Und ich gehe davon aus, dass ihre Bedeutung noch steigen wird.
Nicole Susann Roschker: Diese Tendenz wird auch darin deutlich, dass unser Beirat beispielsweise inzwischen regelmäßig zwischen den Gremiensitzungen konsultiert wird, zu den unterschiedlichsten fachlichen Fragestellungen. Wir schätzen diesen Austausch sehr, denn die Gespräche mit externen Experten, die eine andere Perspektive einbringen, tragen dazu bei, dass wir wesentliche Schritte vorankommen.


Welche Rolle haben NGOs in der Wesentlichkeitsanalyse gespielt?
Nicole Susann Roschker: Als wichtige Stakeholder-Gruppe finden sich NGOs in allen vier Bausteinen der Analyse wieder: in der Deskanalyse, der SDG-Impact-Analyse, den Stakeholder-Befragungen und den Experteninterviews. Die NGOs sind Treiber für viele Entwicklungen, unter anderem in der Gesetzgebung.
Wenn von NGOs Forderungen und Anregungen kommen, wie binden Sie diese in Ihre Strategie und in Ihre Prozesse ein?
Nicole Susann Roschker: Die Wesentlichkeitsanalyse untermauert unseren Strategieprozess. Für jedes in der Analyse durch unsere Stakeholder genannte Thema gibt es eine Tiefenanalyse, die sich auf Chancen, Risiken und wesentliche Trends bezieht. Wir stellen uns die Frage, wie wir das jeweilige Thema im Unternehmen am besten weiterentwickeln können. Unsere Analyse präsentieren wir nicht nur im Group Sustainability Board, sondern wir bereiten die Ergebnisse für alle Fachbereiche und fachübergreifenden Arbeitsgruppen unserer strategischen Handlungsfelder auf. So fließen die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse in unsere weitere Strategieentwicklung ein. Wir leiten dann operative Maßnahmen ab und machen die Ergebnisse über Leistungsindikatoren messbar.
Dr. Wolfram Heger: Ein Praxisbeispiel: Wir haben über viele Jahre unseren Menschenrechtsansatz, das Human Rights Respect System, immer wieder mit externen Stakeholdern gespiegelt. Dabei greifen wir Anregungen auf und diskutieren Dilemma-Situationen, schärfen aber auch Prozesse und KPIs und justieren sie nach. Wir haben nicht jeden Punkt übernommen, aber doch sehr viele – weil sie hilfreich sind und wir ein gemeinsames Ziel im Blick haben. Daher ist dieser Austausch für uns extrem wichtig.
Das klingt nach einer vertrauensvollen Zusammenarbeit
Dr. Wolfram Heger: Absolut. Das war nicht immer so. Aber dank des regelmäßigen Austauschs, auch in 14 Jahren „Sustainability Dialogue“, ist über die Jahre ein Vertrauensverhältnis gewachsen. Daher haben wir heute mit nahezu allen Stakeholdervertretern ein gutes Verhältnis – sofern sie ein Interesse an einem konstruktiven Austausch haben. Es gibt einen gemeinsamen Modus Vivendi, der auf Verlässlichkeit, Vertrauen und gegenseitigem Respekt beruht. Das erlaubt uns, kritische Themen zu adressieren und gemeinsam zu reflektieren. Zum ehrlichen Dialog gehört es übrigens auch, Grenzen unseres unternehmerischen Einflusses aufzuzeigen.


Gleichwohl nutzen Sie als Unternehmen nationale und internationale Mandate, um Positionen gegenüber der Politik zu vertreten.
Dr. Wolfram Heger: Das ist kein Widerspruch – im Gegenteil. Die hierfür legitimierten politischen Institutionen setzen den regulatorischen Rahmen. Wir können unsere Position gemeinsam mit anderen Stakeholdern über Mandate, wie zum Beispiel beim UN Global Compact, dem World Business Council for Sustainable Development oder econsense, dem Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft, vertreten. Auf diesem Weg ist es völlig legitim, gegenüber der Politik auch deutlich zu machen, was wir realistischerweise tatsächlich leisten können.
Zurück zur Wesentlichkeitsanalyse: Wo hat ein Impuls daraus zu einer konkreten Strategie geführt?
Nicole Susann Roschker: Zum Beispiel unser Fokus auf den Ressourcenschutz lässt sich unter anderem darauf zurückführen. Es wurde intensiv mit dem Einkauf diskutiert, inwieweit wir unseren Lieferanten Ziele diesbezüglich setzen und wie wir gemeinsam mit ihnen auf Basis der gesamten Wertschöpfungskette eine deutliche Steigerung des Ressourcen- und Klimaschutzes erreichen. Dazu gehört auch, zu prüfen, ob die Supplier Sustainability Standards noch ambitioniert genug sind und diese stetig weiterzuentwickeln.
Verstehen Sie sich intern auch als Erklärende von Stakeholder-Interessen?
Dr. Wolfram Heger: Wir verstehen unsere Rolle als Übersetzer von aktuellen gesellschaftlichen Erwartungen ins Unternehmen. Wir sehen uns aber auch als Hinweis- und Impulsgeber für zukünftige Nachhaltigkeitsentwicklungen. So beraten wir Fachbereiche, wie sie planen und gestalten können. Diese Aufgabe ist – wie Nachhaltigkeit insgesamt – kein Sprint, eher ein Marathon.
Nicole Susann Roschker: Wir bringen interne und externe Perspektiven zusammen, wenn wir das, was wir in den Gesprächen mit unseren Stakeholdern hören, an die Fachkolleginnen und -kollegen weitergeben.
Sie haben 2021 den 14. und letzten Daimler Sustainability Dialogue mit Stakeholdern durchgeführt. Gibt es das Format auch 2022?
Dr. Wolfram Heger: Definitiv. Wir entwickeln den Dialog kontinuierlich inhaltlich weiter und planen auch 2022 eine Ankerveranstaltung. Die Details entwickeln wir gerade – dabei denken wir auch über zusätzliche kleinere Dialogformate und Diskussionen zu Spezialthemen nach. Wichtig ist vor allem, dass wir kontinuierlich im Austausch sind. Wir werden weiterhin alles daransetzen, im Dialog mit unseren Stakeholdern unseren Beitrag zur nachhaltigen Ausrichtung des Unternehmens zu leisten.
Dr. Wolfram Heger
verantwortet das externe Stakeholder-Management bei der Mercedes-Benz Group AG – darunter auch den Sustainability Dialog sowie die Betreuung von Mandaten, unter anderem beim UN Global Compact. Sein Team gibt externe Impulse intern weiter und greift Zukunftsthemen der Nachhaltigkeit auf. Heger ist seit 1998 im Unternehmen. Zuvor studierte er VWL und Politikwissenschaft und promovierte zu wertorientierter interner Kommunikation.
Nicole Susann Roschker
kümmert sich bei der Mercedes-Benz Group überwiegend um die Strategie- und Governance-Entwicklung für Nachhaltigkeit sowie um den Themenkomplex Sustainable Finance und führt derzeit eine neue Wesentlichkeitsanalyse durch. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen vom Betrieblichen Umweltschutz ist Roschker mit ihrem Team für das Sustainability Competence Office, das Arbeitsgremium des Group Sustainability Board des Konzerns, zuständig. Sie absolvierte 2012 ihren MBA Sustainability Management an der Leuphana Professional School in Lüneburg und ist seit vielen Jahren im Bereich Nachhaltigkeitsmanagement tätig.


Was wir jetzt brauchen, ist eine mutige und Mut machende Politik
Germanwatch gehört als NGO zu den Stakeholdern, mit denen sich die Mercedes-Benz Group AG regelmäßig austauscht. In diesem Portrait geht es um ihre Vorstandsvorsitzende Silvie Kreibiehl und ihre Sicht auf die Ergebnisse der COP26, die Mobilitätswende, Klimagerechtigkeit, Gesetzgebung und nachhaltige Luxuslimousinen.

Silvie Kreibiehl
Vorstandsvorsitzende der deutschen NGO Germanwatch
Dass sich die Mercedes-Benz Group AG beim 26. Weltklimagipfel in Glasgow im November 2021 zum Ende des Verbrennungsmotors bis 2040 bekannt hat, sei ein wichtiges Signal für andere Unternehmen gewesen, sagt Silvie Kreibiehl, Vorstandsvorsitzende von Germanwatch1. „Solche Zielkommunikationen von Unternehmen haben einen Effekt auf die Bewusstseinsbildung“, so die 45-Jährige, die bei der COP26 eine enorme Dynamik in der Wirtschaft beobachtet hat. Doch in Glasgow habe es – bis auf den Vertrag einiger Industrieländer mit Südafrika – kaum Fortschritte hinsichtlich der guten Zusammenarbeit zwischen den Staaten oder der Unterstützung von Partnerländern gegeben, die politische Ansätze für soziale Gerechtigkeit in die Energiewende im Zusammenhang mit dem Klimawandel miteinbeziehen. „Um der Klimakrise entgegenzuwirken, müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine gemeinsame Mission haben und gleichzeitig investieren. Das erfordert eine starke Verpflichtung und Vertrauen aller Marktbeteiligten.“ Angesichts der komplexen Lieferkette in der Automobilindustrie sei die Ambition 2039 von Mercedes-Benz als OEM, deren Ziele inzwischen noch verschärft wurden, deshalb ebenso ehrgeizig wie hilfreich. „Wenn das wirtschaftliche Risiko greifbarer wird, reagieren auch die Zulieferer. Das sehen wir ganz oft.“
Mobilitäts- statt Pendlerpauschale und ermutigende Visionen
Als koordinierende Leitautorin für den Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC weiß sie genau, wie hoch die Investitionsbedarfe und was die Treiber einzelner Sektoren sind. Um einen Rebound-Effekt beim Umstieg auf die E-Mobilität abzufedern, empfehle sich, neben Kaufprämien auch Bonus-/Malus-Systeme sowie eine generelle Mobilitätspauschale anstelle der Pendlerpauschale einzuführen. „Doch für die Mobilitätswende brauchen wir mehr als E-Mobilität, nämlich Verhaltensänderungen und eine bessere Infrastruktur“, so Kreibiehl, die für sich selbst das Lastenfahrrad entdeckt hat, um Wege in ihrem Wohnort nahe Frankfurt zurückzulegen. Neben Technologie seien eine gute Ladeinfrastruktur, mehr Fahrradwege sowie ein Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs ebenso wichtig, wie ein verändertes Verhalten jedes Einzelnen. „Darauf müssen wir Lust machen. Was wir jetzt brauchen, ist eine mutige, aber auch Mut machende Politik. Ich vermisse mehr visionäre Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik, die sagen: Schaut mal, so können wir leben, das können wir schaffen, es wird uns besser gehen!“ Denn davon ist Silvie Kreibiehl zutiefst überzeugt: „Wir steuern auf eine bessere Welt zu, wenn wir das tun. Aber dafür brauchen wir griffige Bilder, die Menschen Mut machen und eine Vision erzählen.“


Zielorientierte Politik und Lust auf Transformation
Laut Germanwatch tue sich viel auf Unternehmensseite. „Es gibt in vielen Unternehmen überzeugte Manager, die große Konzerne umlenken“, so Kreibiehl. Deutschland und seine Unternehmen seien bestens positioniert für eine schnelle Transformation, meint die Klimafinanzierungsexpertin. Diese Veränderung werde die deutsche Wirtschaft stärken, wenn sie innovative Investitionen weiter hier tätigen.
Das beste Steuerungsinstrument sei, wenn die Politik Transparenz schaffe und mit eindeutigen langfristigen Zielen und kurz- und mittelfristigen Meilensteinen klar benenne, was geschehen müsse für Mobilitätswende und Klimaneutralität. Kreibiehl: „Die kommenden fünf Jahre sind ausschlaggebend, um das globale 1,5 Grad-Ziel noch zu erreichen. Wir brauchen jetzt ganz schnell eine deutliche Reduzierung der Treibhausgasemissionen, damit das verbleibende CO2-Budget ausreicht. Es gilt deshalb, jegliche Lock-in-Effekte zu vermeiden, weil sie zu teuer sind und alles verzögern.“
Um das der Bevölkerung zu erklären, sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Verfassungsbeschwerde junger Menschen zum Klimaschutzgesetz im April 2021 in wesentlichen Teilen bestätige, hilfreich gewesen. Für die nötigen Einsparungen brauche es viel Vertrauen zwischen den einzelnen Stakeholdern. Doch das Wichtigste sei, Lust auf die Transformation zu machen. „Dann kommen wir als Gesellschaft in einen Wettbewerbseffekt, wo Menschen Neues ausprobieren und die Angst vor Veränderungen verlieren. Dann kann eine Transformation schneller voranschreiten als gedacht. Vielleicht ist es am Anfang blöd, falls ich nicht mehr überall mit einem Verbrenner in die Innenstadt fahren kann. Aber nach einer Weile finde ich es normal, im Stadtzentrum mit der Straßenbahn zu fahren, wenn ich die Verbindungen kenne und genieße die Vorteile von autofreien Innenstädten.“
Vermeintliche Widersprüche zwischen Kapital und Klimaschutz auflösen
Etwas nicht zu tun oder zu kaufen, könne „wahnsinnig befreiend sein“, meint die gelernte Diplom-Kauffrau. Sie selbst hat sich in ihrem Leben bereits für eine große Veränderung entschieden: Im Alter von 30 Jahren war sie erfolgreiche Investmentbankerin in den Bereichen Corporate Finance und Nachhaltigkeit bei der Deutschen Bank, mit sechsstelligen Jahresbezügen. Sie profitierte von einer steilen Lernkurve und spannenden Projekten – trotzdem entschied sie, sich an anderer Stelle in die Gesellschaft einzubringen. 2007 bewirbt sie sich beim Deutschen Entwicklungsdienst für die Begleitung eines Mikrokreditprojekts in Uganda. Ihre Vorgesetzten wollen sie halten. Schließlich geht sie während eines Sabbaticals für sechs Monate in ein ugandisches Dorf an der Grenze zum Kongo. Sie lebt unter einfachen Bedingungen. Was wie eine Neuausrichtung aussieht, sei eher ein „zurück zu den Wurzeln“ gewesen, sagt Silvie Kreibiehl rückblickend. Sie habe nämlich tropische Agrarwirtschaft studieren und danach in der Entwicklungszusammenarbeit arbeiten wollen.
Als Investmentbankerin eröffnet sie Solarfirmen den Börsenmarkt, „als man Investoren noch erklären musste, was Einspeisevergütung bedeutet“. Und sie weiß heute auch als Vorstandsvorsitzende von Germanwatch, dass Kapital und Klimaschutz Hand in Hand gehen müssen: „Sie werden keine Transformation hinbekommen, wenn Sie Unternehmen nicht finanzieren. Sie werden auch keine Transformation ohne Kapitalmarkt hinbekommen. Ich glaube, wir müssen aufhören, vermeintliche Widersprüche zu betonen.“
Für die Mutter einer dreijährigen Tochter geht es dabei auch um eine sozialökologische Transformation im Sinne globaler Gerechtigkeit. „Es wird Lust machen, die Natur zu genießen. Aber es wird keine Lust machen, mehr Extremwetterereignisse zu erleben. Allein das Leben in der Stadt wird anders, aber schöner werden. Und wenn wir ein stärkeres Maß an globaler Gerechtigkeit haben, muss ich mir nicht mehr bei allem, was ich kaufe, Gedanken machen, wer jetzt darunter leiden könnte“, so Kreibiehl. In vielen Ländern seien Technologietransfer, Kapazitätsaufbau und vieles mehr notwendig. „Doch wir müssen auch die Ursachen für bestehende Wohlstandsgefälle adressieren, zum Beispiel in Handelsabkommen.“


EU-Taxonomie schärft den Blick von Finanzmarktakteuren und Anlegern
Der im Sommer 2021 veröffentlichte erste Teil des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats zeige deutlich, welche regionalen Effekte der Klimawandel mit sich bringe und was das unter anderem für die Wirtschaft und ihre Lieferketten bedeute. Zu den großen Erfolgen von Germanwatch 2021 zählt aus Sicht von Kreibiehl das Sorgfaltspflichtengesetz, auch Lieferkettengesetz genannt. Kreibiehl: „Es ist ein Paradigmenwechsel von Freiwilligkeit hin zu Verbindlichkeit bezüglich der Achtung von Menschenrechten in den globalen Lieferketten. Unternehmen nehmen das Thema bereits viel ernster.“
Das von der Mercedes-Benz Group initiierte Human Rights Respect System, das die Wahrung der Menschenrechte in der gesamten Lieferkette sichern soll, sei als risikobasierter Ansatz „genau das, was wir brauchen“. Ein Unternehmen müsse dort ansetzen, wo es in den eigenen Geschäftstätigkeiten die größten menschenrechtlichen Risiken sieht. Das sei auch der Ansatz des Lieferkettengesetzes. Kreibiehl: „Was wirklich ins Zentrum muss, sind die Menschen vor Ort. Dafür ist es wichtig, dass die Risiken nicht davon abhängen, ob es sich um direkte Zulieferer handelt, oder um welche, die weiter hinten in der Lieferkette stehen.“
„Eine Taxonomie, die Nachhaltigkeit von Investitionen bestimmt, kann eine massive Sogwirkung entfalten“, ist sich Kreibiehl sicher. „Immer mehr Investoren und Anleger werden auf Nachhaltigkeitsrisiken achten. Dann, davon geht Kreibiehl aus, „geraten Asset Manager unter Druck, die ESG-Kriterien nicht nur als Instrument für die Berichterstattung zu nehmen, sondern auch als Steuerungsinstrument.“ Sie helfe, den Blick zu schärfen, transparenter und konkreter zu werden. Denn noch sähen nicht alle Investoren, wie stark und schnell der Umbau in den Unternehmen vorangehen müsse. Nach der Taxonomie müssen Fahrzeuge ab 2026 emissionsfrei sein, um als nachhaltig gelten zu können. Das sei indes ein wichtiger, wenn auch nicht ausreichender Baustein für die Mobilitätswende. Künftig werde neben der Klimataxonomie auch die soziale Taxonomie wichtig sein.
Luxuslimousinen als Early Mover für nachhaltige Innovationen
Damit die Transformation zur CO2-neutralen und nachhaltigen Wirtschaft gelingt, sieht Silvie Kreibiehl den Mobilitätssektor auch in der Pflicht, seine Rohstoffnachfrage zu reduzieren. „Viele Technologien – gerade auch im Energiesektor – haben leider einen hohen Verbrauch an metallischen und mineralischen Rohstoffen. Nicht nur für den Energiesektor sind daher die Ziele einer Kreislaufwirtschaft so wichtig und eine Reduktion des Rohstoffverbrauchs elementar“, so Kreibiehl. „Eine Luxuslimousine aus recycelten Materialien zu bauen, macht sie zu einem Early Mover für Innovationen, die anschließend in den Massenmarkt gehen. Sie darf allerdings nicht zum Feigenblatt für deutlich weitreichendere Veränderungen von Lebensstil und Konsumverhalten werden.“
Kreibiehl findet in diesem Zusammenhang auch eine veränderte Preispolitik spannend: „Es wäre interessant, zu überlegen, ob in die Produktionskosten verschiedener Modelle der ökologische Impact als Schattenpreis miteinbezogen werden müsste. Dann wäre am Ende das nachhaltigere Fahrzeug vom anderen etwas quersubventioniert, aber das Preissignal wäre passender.“
1 Germanwatch: Die deutsche Nichtregierungsorganisation (NGO) setzt sich für den Erhalt der Lebensgrundlagen sowie globale Gerechtigkeit ein und engagiert sich in der nationalen und internationalen Klimapolitik. Zu den Kernthemen zählen zudem Unternehmensverantwortung, Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Welternährung, Landnutzung und Handel. Sie gilt als führende NGO im Automobildialog.
Silvie Kreibiehl
ist seit 2019 Vorstandsvorsitzende der deutschen NGO Germanwatch. Die Diplom-Kauffrau ist Klimafinanzierungsexpertin und koordinierende Leitautorin für das Finanzierungskapitel des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates.