Der Umgang mit ESG-Risiken rückt immer stärker in den Fokus vieler Unternehmen. Dieser Trend wird durch die zunehmenden Sorgfaltspflichten für Unternehmen beschleunigt. Was heißt das für einen internationalen Konzern mit komplexen Lieferketten? Thilo Mangold, der bei der Mercedes-Benz Group das zentrale Risiko- und Chancenmanagement leitet, erzählt im Interview von neuen Perspektiven und was diese mit einer Speak-up-Kultur zu tun haben.

Thilo Mangold
Mercedes-Benz AG
Herr Mangold, wer Risiken managen will, muss sie zunächst einmal identifizieren. Mit welchen sozialen Risiken setzt sich Mercedes-Benz auseinander?
Da gibt es einige. Ein soziales Risiko beschreibt zunächst die Gefahr, dass Ereignisse, Entwicklungen oder Handlungen uns daran hindern, unsere Ziele zu erreichen. Um dem vorzubeugen, setzen wir uns beispielsweise systematisch mit arbeits- und menschenrechtlichen Risiken auseinander. Das tun wir nicht nur in allen Ländern, in denen wir tätig sind, sondern auch in allen Bereichen unserer Wertschöpfungskette, von der Entwicklung über den Einkauf und die Produktion bis zum Vertrieb und unseren Finanzdienstleistungen. Manche Risiken ergeben sich daraus, dass wir als internationaler Konzern verschiedenen, teilweise heterogenen regulatorischen Anforderungen unterliegen. Andere hängen unmittelbar mit unserer nachhaltigen Geschäftsstrategie zusammen. Durch ein vorausschauendes Risikomanagement stellen wir sicher, dass die Leistungsfähigkeit und Innovationskraft des Konzerns auf lange Sicht erhalten bleibt. Entscheidend ist, für die identifizierten Risiken so frühzeitig wie möglich Gegenmaßnahmen zu treffen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die klassische Risiko-Landkarte hat sich verändert. Sie ist durch die zunehmende Integration von ESG-Themen und ein immer komplexeres Umfeld mit zahlreichen Anspruchsgruppen deutlich dichter geworden. Aber das ist nur eine Seite der Medaille …
Was ist die andere Seite?
Wo Risiken sind, ergeben sich auch Chancen für den Konzern. Im Risiko- und Chancenmanagement wollen wir diese aufdecken und analysieren, wo wir uns als „First Mover“ aufstellen, um für unsere Kundinnen und Kunden, Beschäftigten, Investorinnen und Investoren oder andere Stakeholder in Zukunft etwas zu verändern, das einen positiven Unterschied macht. Durch das Risiko- und Chancenmanagement haben wir die Möglichkeit, Veränderungen im Umfeld des Konzerns, die zum Beispiel die Menschenrechte, Vielfalt oder Ressourcenschonung betreffen, frühzeitig zu erkennen und vorausschauend entsprechende Antworten zu entwickeln. Das ist ein wichtiger Baustein, um sowohl für den Konzern selbst als auch für die Stakeholder einen zusätzlichen Wert zu schaffen.
Wie unterscheidet sich die Bearbeitung von klassischen und ESG-Risiken bzw. Chancen?
Der erste Unterschied liegt darin, wie sie identifiziert werden. Um im Bild der Landkarte zu bleiben, gilt es, sensibel für die neuen Themenfelder zu sein und mit einem 360-Grad-Blick das gesamte Umfeld zu betrachten. Es geht darum, die Sensibilität in unserer Organisation für die erweiterte Risikolandkarte zu erhöhen. So können Frühwarnsignale schnellstmöglich erkannt werden. Aber auch die Bewertung ist vielschichtiger geworden. Klassische Risiken lassen sich in der Regel einfacher quantifizieren. ESG-Risiken mit einem Preisschild zu versehen, aus dem hervorgeht, welche potenzielle Wirkung auf das Ergebnis des Konzerns entsteht, ist weitaus schwieriger. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Ursache und Wirkung häufig nicht in einem eindeutigen Zusammenhang stehen. Mitunter treten Wirkungen an Stellen auf, die man zuvor nicht im Blick hatte. Damit müssen wir umgehen und unsere Methoden entsprechend anpassen.
Zusätzlich muss eine weitere Betrachtungsperspektive in die Bewertung einbezogen werden: die Inside-out-Perspektive. Dabei wird bewertet, wie sich ein möglicher Schaden durch ein Risiko auf das Umfeld des Konzerns auswirkt.

Methodik ist ein gutes Stichwort. Lassen sich so heterogene Risiken wie beispielsweise Menschenrechtsverletzungen und der Fachkräftemangel überhaupt in einem System managen?
Wir können es uns, salopp gesagt, gar nicht erlauben, mit einem Flickenteppich zu arbeiten. Wir haben einen klar definierten Prozess sowie ein zugehöriges IT-System, eine „Single Source of Truth“. Der Input dazu kommt aus zahlreichen Quellen. Für den Bereich der Menschenrechte liefert unter anderem der Bereich Social Compliance über das Human Rights Respect System wichtige Hinweise. Risiken, die sich aus dem Fachkräftemangel ergeben würden, würden dagegen vor allem aus dem Human Resource Management heraus gemeldet. Dahinter stehen jeweils unterschiedliche Ermittlungslogiken, dennoch basiert alles auf einem einheitlichen Screening- und Reporting-Prozess. Das alles dient unserem Ziel im zentralen Risikomanagement: Informationen zu bündeln und auszuwerten. Eine wichtige Rolle spielt auch die Auswertung externer Impulse. Um sie zu erfassen, haben wir im Konzern ein sogenanntes Risk-Radar verankert, in dem wir regelmäßig zum Beispiel mit Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Investor Relations, External Affairs oder Kommunikation zusammenarbeiten. Dort werden Frühwarnsignale und aktuelle Themen diskutiert und dabei geprüft, woraus sich für uns Chancen und Risiken ergeben könnten. Je früher wir Entwicklungen erkennen, desto besser.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, das frühzeitige Erkennen zu fördern?
Die Sensibilität für ESG-Themen im gesamten Konzern weiterzuentwickeln, ist ein zentraler Aspekt. Das gelingt uns Schritt für Schritt, die Basis sind für alle zugängliche Informationen und ein Dialog dazu im Unternehmen. Gleichzeitig brauchen wir Menschen, die Risiken offen ansprechen. Das ist gemeint, wenn von einer Speak-up-Kultur die Rede ist. Für das Risikomanagement ist diese Kultur essenziell, weil sie dazu beiträgt, dass frühzeitig über erfolgsentscheidende Themen diskutiert wird und diese bewertet werden können. Vielleicht kann bei dem einen oder anderen die Sorge im Raum stehen, als Bedenkenträger zu gelten. Es ist also gar nicht so einfach, transparent mit Risiken umzugehen. Teil unserer Aufgabe im Risk Management ist es, diese Herausforderungen anzusprechen und eventuelle Sorgen zu entkräften. Unser Team setzt sich deshalb über Bereichs- und Ländergrenzen hinweg für eine Kultur ein, in der wir Risiken gemeinsam frühzeitig abwägen und ebenso frühzeitig gemeinsam gegensteuern.
Thilo Mangold
leitet das zentrale Risiko- und Chancenmanagement bei der Mercedes-Benz Group. Obwohl er sich in seiner täglichen Arbeit meist mit Risiken befasst, bezeichnet er sich trotzdem als sehr optimistischen und zugleich realistischen Menschen.